Klasse und Geschlecht: Frauenbewegungen und soziale Kämpfe um Arbeit

Call for Articles für ein Schwerpunktheft von „Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien“

„[…] jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, eine [sic!] Geschlecht oder eine Rasse“. So beschrieb die deutsche Sozialdemokratie im Erfurter Programm von 1891 die Strukturen, gegen die sich ihre Politik wandte. Das Dokument kann als eines der ersten intersektionalen Programme der politischen Linken gelten. Auch marxistische Klassiker wie Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ (1884) oder Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ (1879) klammerten sich nicht an die vorgefundenen Geschlechterordnungen der proletarischen Zielgruppe. Stattdessen kritisierten sie diese und brachten sie mit anderen Diskriminierungsformen zusammen. Anstatt populistisch dem Volk aufs Maul zu schauen, bemühte sich die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts „Klasse“ – und damit sich selbst – als Bewegung zu formen. Ob sie deshalb bereits als ArbeiterInnenbewegung gelten kann, ist eine der Fragen, denen wir uns im Rahmen unseres Sonderheftes widmen wollen.
Trotz der Berufung auf objektive Gesetze der Geschichte war die Formierung einer proletarischen Klassenidentität, wie sie E. P. Thompson beschrieben hat, ein aktiver Prozess, der gelingen konnte, indem der bereits existierenden bürgerlichen Frauenbewegung von den Proletarierinnen und ihren Ideengeberinnen wie Clara Zetkin ein eigener Entwurf gegenübergestellt wurde. Dennoch blieb für politische Frauen das sprichwörtliche „Unbehagen in der Klasse“. Von der klassischen Bewegung vor 1914 bis hin zur neuen Frauenbewegung der 1960-/70er-Jahre entstanden immer wieder Konflikte um das Verhältnis von Klasse und Geschlecht. Wenn es mehrere Möglichkeiten gab, gesellschaftsverändernde Protestidentitäten zu bilden, warum sollte dann „Klasse“ der Vorrang gebühren? Binnenkämpfe waren die Folge dieses Ringens um das „Wir“ der Emanzipation – manchmal produktiv, oft genug aufreibend für alle Beteiligten. Zugleich aber, auch das zeigt die jüngere Forschung, gab es vielfältige personelle Überschneidungen und Kooperationen zwischen Arbeiter- und Frauenbewegung.

Frauenbewegungen und historische Zäsuren
Als 1968 der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ den Sozialistischen Deutschen Studentenbund mit ei­nem Tomatenwurf zur Debatte über „die Frauenfrage“ zwang, waren die internen und externen Auseinandersetzungen der sozialistischen und proletarischen Frauenbewegungen vor der Zäsur durch Krieg und Faschismus bereits weitgehend vergessen. Eine neue Generation von Frauen entdeckte – auch im Privaten – das Politische, hatte jedoch nur wenige biografische Vorbilder und kaum organisatorische Kontinuität, an die sie anknüpfen konnte. Zusätzlich verkompliziert wurde das durch die Blockkonfrontation des Kalten Krieges: Staatliche Massenorganisationen traten in der DDR und den anderen Ländern des Staatssozialismus das Erbe der Frauenbewegung an – teils heftig bekämpft von ihren Schwestern im Westen, die den „Staatsfeminismus“ als reinen Transmissionsriemen ansahen.
Ganz selbstverständlich sprechen wir heute von unterschiedlichen Phasen der Frauen- und Arbeiterbewegung bzw. der feministischen Bewegung, einer ersten von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 und einer zweiten ab den 1960er-Jahren. Außerdem gab es die Zeiten dazwischen mit ihren wieder eigenen Spezifika. Hinzu gesellt sich eine dritte Phase seit den 1990er-Jahren. Eine neue Generation von Frauen jenseits der Blockkonfrontation dekonstruiert seitdem die Kategorie „Frau“ selbst. Das „andere Geschlecht“, einst fixe Größe und einzig in seiner Hierarchisierung umstritten, löste sich auf in eine Skala divergierender Identitäten. Deren Verhältnis zueinander ist bis heute umkämpft – das kämpfende Subjekt selbst wurde fragwürdig, auch deshalb, weil schwarze Frauen und Frauen aus ehemals kolonisierten Ländern die Definitionsmacht eines rein weißen, „westlichen“ Feminismus infrage stellten.
Vielfach galten diese Konflikte als Wasserscheiden und brandneue „turns“. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Auseinandersetzung um divergierende Identitäten nicht erst in den 1990er Jahren einsetzte. US-amerikanische FeministInnen etwa verbanden schon früh die Frauenbewegung mit dem Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Sowohl Niederlagen wie die Zerschlagung der Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich ab 1933/34, als auch die Integration durch Teilerfolge führten jedoch dazu, dass in der longue durée die Geschichte der Arbeiter- und Frauenbewegungen und des Feminismus eher eine von Brüchen als von Kontinuitäten ist.
Unser Schwerpunktheft will anhand der Kategorien „Klasse“ und „Geschlecht“ nach diesen Brüchen, aber auch nach den unter ihnen verschütteten langen Linien und den Überschneidungen fragen. Wir suchen quellenbasierte Beiträge, die sich dem Verhältnis von Arbeiter- und Frauenbewegungen weltweit widmen. Der Zeitrahmen reicht dabei von den Anfängen der sozialistischen Arbeiter- und Frauenbewegung im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, aber auch Beiträge zur Geschlechterdynamik frühmoderner sozialer Proteste sind willkommen. Vorausgesetzt wird eine historische Perspektive, die Vorläufer und Kontinuitäten mitdenkt. Transnationale und international vergleichende Arbeiten sind erwünscht, ebenso diachrone Gegenüberstellungen sowie verflechtungsgeschichtliche Untersuchungen.

Mögliche Themen sind u.a.:
* Geschlechterdiskurse bzw. Verhandlung von Geschlecht in Theorie und Praxis linker Bewegungen weltweit;
* Frauen als Akteurinnen von Sozialprotesten und Klassenformation im 18. und 19. Jahrhundert;
* die Trennung von Produktion und Reproduktion und die bürgerliche Eigentumsordnung, sowie die sozialistische Antwort in Form einer „sozialistischen Frauenemanzipationstheorie“ (Richard Evans);
* Interventionen in die Rechtsordnung (Wahlrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht, Organisationsverbote etc.);
* das Verhältnis von Frauen zu linken Parteien, ihren Vorfeldorganisationen und Spaltungen: von Repression über erste Funktionsträgerinnen bis hin zu Debatten um Quotierungen und Doppelspitzen;
* das Verhältnis von Frauen zu (Lohn-)Streiks und Gewerkschaften;
* Streiks im care-Bereich und Frauen(general)streiks, wie 1975 in Island, 1991 in der Schweiz oder 1994 in Deutschland;
* Vergeschlechtlichung von Gewalt: das Verhältnis von Frauen zu Militanz, „Propaganda der Tat“ und Pazifismus;
* die Entwicklung des Feminismus und die damit verbundene Aufwertung der weiblichen Subjektivität als Protestidentität sowie das Verhältnis von Frauenbewegung und Feminismus;
* Periodisierungs- und Abgrenzungsprobleme: biografische, theoretische und organisatorische Brüche sowie Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Phasen bzw. Generationen der Frauenbewegungen;
* das Verhältnis sozialistischer und proletarischer Frauenbewegungen zu anderen emanzipatorischen Bewegungen, beispielsweise der Antisklavereibewegung.

Form und Fristen
Wir bitten bis zum 31. Dezember 2018 um die Einreichung aussagekräftiger Exposés im Umfang von bis zu 2.500 Zeichen, aus denen Thematik, Methode und Quellenbasis des geplanten Artikels hervorgehen. Auf Grundlage der Exposés werden wir gezielt Beiträge anfordern. Die Abgabefrist für die ausgearbeiteten Artikel ist der 31. März 2019. Rezensionen und Dokumentationen zu thematisch passenden Veröffentlichungen sind ebenso willkommen. Alle Beiträge durchlaufen vor der Veröffentlichung ein internes Begutachtungsverfahren (review), erst nach Einreichung und Begutachtung der Endfassung erfolgt die Publikationszusage. Beiträge für Arbeit-Bewegung-Geschichte werden nicht honoriert. Manuskripte bitte per Email, vorzugsweise als doc-Datei einsenden. Die ausgearbeiteten Beiträge sollen 40.000 Zeichen inkl. Leerzeichen nicht überschreiten. Bitte beachten Sie unsere Hinweise für Autorinnen und Autoren.

Kontakt und Abgabe:
cfp[ätt]arbeit-bewegung-geschichte.de

Der Zeitplan in Kürze:
Einreichung von Exposés: 31. Dezember 2018
Einreichung fertiger Beiträge: 31. März 2019
Veröffentlichung des Schwerpunkthefts: September 2019

Der Call als PDF: „Klasse und Geschlecht“